Montag, 2. November 2009
Wie das Endocannabinoidsystem auf chronische Erkrankungen reagiert
Dr. med. Franjo Grotenhermen
Mitarbeiter des nova Institutes in Hürth bei Köln und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin (ACM).
Jüngst wurden zwei Studien veröffentlicht, die eindrucksvoll demonstrieren, wie das körpereigene Endocannabinoidsystem auf verschiedene chronische Erkrankungen reagiert. Es ist im Sinne eines Selbstheilungsversuchs des Körpers aktiviert. Das Endocannabinoidsystem besteht aus Rezeptoren für Cannabinoide auf Nerven und anderen Zellen, aus vom Körper selbst produzierten Substanzen, die diese Rezeptoren aktivieren, so genannte Endocannabinoide, sowie aus Enzymen, die für die Bildung und den Abbau dieser Endocannabinoide verantwortlich sind. Im Gegensatz zu THC weisen Endocannabinoide nur eine kurze Wirkungsdauer von Sekunden bis wenige Minuten auf.
Wissenschaftler der Klinik für Anästhesiologie der Ludwig-Maximilian-Universität in München konnten nachweisen, dass bei Patienten mit komplexen regionalen Schmerzsyndromen erhöhte Blutspiegel des Endocannabinoids Anandamid auftreten. Sie hatten die Werte von zehn Patienten mit den Werten von zehn gesunden Kontrollpersonen gleicher Alters- und Geschlechtsstruktur verglichen. Diese chronischen komplexen Schmerzsyndrome, auch Morbus Sudeck genannt, treten nach Verletzungen auf. Die erhöhten Anandamid-Spiegel legen nach Auffassung der Autoren nahe, dass das periphere Endocannabissystem bei Vorliegen dieser chronischen Schmerzerkrankung aktiviert ist.
Eine Arbeitsgruppe von Wissenschaftlern aus Spanien hatte bei Patienten mit einer chronischen Darmentzündung, der so genannten Colitis ulzerosa, Veränderungen des Endocannabinoidsystems festgestellt. Sie entnahmen 24 Patienten mit der Erstdiagnose einer Colitis ulzerosa vor Beginn der Behandlung und erneut nach erfolgreicher Therapie Schleimhautproben vom Dickdarm. Diese Proben wurden mit Schleimhautproben aus dem Dickdarm von 22 Patienten mit Darmkrebs verglichen. Alle Proben wurden auf das Vorkommen von Cannabinoidrezeptoren sowie die Konzentration der Enzyme für die Herstellung und den Abbau von Endocannabinoiden untersucht. Diese Konzentrationen waren verändert, und die Wissenschaftler folgerten aus ihren Beobachtungen, dass Signalwege für Endocannabinoide die mit der Colitis ulzerosa einhergehende Entzündung reduzieren können, was eine Möglichkeit zur Therapie entzündlicher Darmerkrankungen eröffne.
Es ist seit mehr als zehn Jahren aus tierexperimentellen Studien bekannt, dass das Endocannabinoidsystem tonisch aktiv ist, dass also andauernd Endocannabinoide produziert und freigesetzt werden. Dies konnte beispielsweise durch eine Blockierung von Cannabinoidrezeptoren nachgewiesen werden. Wurden Substanzen verabreicht, die die Cannabinoidrezeptoren blockieren, so traten Wirkungen auf, die denen von Cannabinoiden entgegengesetzt sind. Beispielsweise verursachte die Gabe eines Cannabinoidrezeptor-Blockers im Tierversuch eine vergrößerte Schmerzempfindlichkeit. Dies lag daran, dass die permanent gebildeten Endocannabinoide, die immer für eine leichte Schmerzlinderung sorgen, nicht länger die Cannabinoidrezeptoren in Schmerzregelkreisen aktivieren konnten.
Die beiden neuen Studien aus München und Spanien unterstützen die Annahme, dass die tonische Aktivität des Endocannabinoidsystems in Abhängigkeit vom Zustand des Organismus variiert, und dass sich das Endocannabissystem bei chronischen Erkrankungen an die neue Situation anpasst. So wurde beispielsweise bereits früher in Tierversuchen nachgewiesen, dass die Aktivität von Endocannabinoiden in Nervenzellen des Rückenmarks, die für die Weiterleitung von Schmerzen verantwortlich sind, bei Nervenverletzungen erhöht ist und so die Weiterleitung von Schmerzreizen reduziert. In einer anderen Untersuchung mit einem Tiermodell für chronische neuropathische Schmerzen fanden Wissenschaftler, dass die Zahl der Cannabinoidrezeptoren nach einer Nervenverletzung in für Schmerzen zuständigen Bereichen des zentralen Nervensystems zugenommen hatte. Eine Zunahme von Rezeptoren ermöglicht grundsätzlich eine bessere Wirkung sowohl von selbst produzierten Cannabinoiden (Endocannabinoide) als auch von außen, aus therapeutischen Gründen zugeführten Cannabinoiden wie THC.
Im Jahr 2001 wurde eine viel beachtete tierexperimentelle Studie veröffentlicht, die erklären half, wie Cannabinoide die Spastik bei Multiple-Sklerose-Patienten reduziert. Bei Mäusen war eine Krankheit verursacht worden, die Eigenschaften der multiplen Sklerose von Menschen aufweist und beispielsweise auch eine Spastik verursacht. Die Stärke dieser Spastik unterlag einer tonischen Kontrolle des Endocannabissystems. Der Organismus versuchte durch eine vermerkte Aktivierung von Endocannabinoiden die Stärke der Spastik zu reduzieren.
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